Mehr Schande als Fleck? Die Verachtung historischer Bausubstanz und die Ideologie der Moderne in Deutschland

Eine Analyse mit Handlungsperspektive

(Titelbild: Kammgarnspinnerei Wernshausen, errichtet 1836-1920, Abriss 2009, © TLDA)

Wir bauen eine neue Gesellschaft, aber diese Gesellschaft darf nicht in die Gehäuse der alten kriechen.
Hans Sharoun, Stadtbaudirektor Berlin 1945/46

Verfasser: Jan Kobel, Judith Rüber, im Januar 2021

A_Abstract / Zusammenfassung und Nachweiszweck:

1) Von allen baulichen Zeugnissen, auf die Deutschland zurückblicken kann, ist ein Gebäudetypus am meisten von Zerstörung bedroht: die Industriearchitektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kein anderer Typus steht so oft leer und kein anderer Leerstand bedeutet so schnell Abriss. 
Damit gehen nicht nur Jahr für Jahr wertvolle Architekturen und Denkmäler verloren, die von der Geschichte einer Industriekultur zeugen, die Deutschland bis heute prägt. Diese Abrisse sind auch in ökologischer Hinsicht unverantwortlich, da der Erhalt und die Wiederherstellung dieser Gebäude ein vielfaches nachhaltiger ist als ihr Abriss und eventuelle Neubauten. Schließlich sind diese Fabrikarchitekturen durch keinen Neubau zu übertreffen was ihren Erlebnis- und Nutzwert angeht für Wohnen, Handel, Kunst und Gewerbe. 

2) Obwohl diese Erkenntnis nicht neu ist, Deutschland zahlreiche Beispiele erfolgreicher Umnutzungen von Industriekulturen vorweisen kann, ist der Abriss dieser Gebäude nicht gestoppt. Das liegt an zwei Gründen, wie diese Abhandlung nachweisen will: 
Zum einen an einem gebrochenem Verhältnis der deutschen Baukultur zu ihrer eigenen Geschichte, die durch zwei politisch-moralische Zusammenbrüche im 20. Jahrhundert geprägt ist, die andere europäische Staaten so nicht erlebten. Dabei kommt der Ideologie und dem Absolutheitsanspruch der Moderne eine nicht unerhebliche Rolle zu: Schön und gut ist bis heute nur, was neu ist!
Zum anderen der ungebrochenen Bereitschaft des Bundes und der Länder, erhebliche Mittel für sog. „Brachenberäumungen“ zur Verfügung zu stellen. Das erscheint problematisch vor allem deshalb, weil diese Mittel ausgeschüttet werden völlig getrennt davon, inwiefern die durch diese Gelder ins Werk gesetzten Abrisse tatsächlich ihrem Anspruch, Flächen „wiederzubeleben“, gerecht werden. Wie gezeigt werden kann, sind diese Mittel nicht nur Voraussetzung für viele Abrissprojekte, sondern ihr Motor. Bund und Ländern kommt hier eine Verantwortung zu, die nur selten diskutiert wird.

3) Deshalb kann ein ernsthafter Versuch, dem deutschen Abrisswahn gegen (nicht nur, aber insbesondere) die unwiederbringlichen Industriearchitekturen unseres Landes entgegenzutreten, nur darin bestehen, die Fokussierung auf denkmalpflegerische Aspekte auszuweiten auch auf Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit, der gewerblichen Nutzungspotenziale und der positiven sozialen Folgeeffekte für Städte und Kommunen. Zugleich muss es gelingen, die Bundes- und Landesbehörden von der wirtschaftspolitischen und stadtplanerischen Schädlichkeit ihrer Vergabepolitik zu überzeugen. Eine Petition an den Deutschen Bundestag ist in Vorbereitung.

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Nichts ist so uncool wie Neubauten

Verlässt man die Zentren, kämpfen oft einzelne Akteure für die Industriekultur gegen Windmühlen. „Vernetzt euch!“ lautet das Credo von kulturfabriken.eu.

Ein Beitrag von Judith Rüber, erschienen im MEDIAN-Heft 2020 der Metropolregion Mitteldeutschland GmbH.
Foto: Räume der ehemaligen GreiKa, der Greiner Kammgarnspinnerei in Berga-Elster

Wie bringt man neue Ideen in leer stehende Gebäude? Im ländlichen Raum verhallt diese Frage oft ungehört, weil sie nicht laut genug gestellt wird. Wo leer stehende Gebäude einige Jahre ohne Nutzung sind, werden sie außerhalb der Zentren oft abgerissen – meist mit öffentlichen Mitteln, die dreimal ausgereicht hätten, Dach und Entwässerung zu reparieren.

Unter www.kulturfabriken.eu entsteht in Mitteldeutschland ein Netzwerk, das die bestehenden Initiativen vernetzen, deren Angebote sichtbar machen, junge Menschen unterstützen und der Industriekultur eine Stimme geben will.

(Auszug aus der Veröffentlichung im MEDIAN-Heft 2020)

Die gemeinsame Überzeugung des länderübergreifenden Netzwerks: Wir brauchen diese Quartiere, um den früher oder später aus den gentrifizierten Metropolen Flüchtenden die urbanen Räume zu bieten, die sie suchen. Oder wie es der Thüringer Fotograf und Kulturmanager Jan Kobel formuliert: „Allzu oft ziehen die Vertreter der öffentlichen Hand mit Blick auf das Schicksal dieser Architekturen ausschließlich den Rückbau in Betracht. Wir möchten gerne ein Umdenken vorantreiben.“ Kobel ist Eigentümer zweier Industriedenkmäler im thüringischen Arnstadt und einer der Initiatoren dieses Netzwerkes.

Die Bedingungen für eine solche Aktion sind gut: Überall in den Städten Mitteldeutschlands entstehen Initiativen, die den kulturellen Wert dieses industriellen Erbes entdecken und sie in Konzerträume, Galerien, Ateliers, Coworking Spaces oder Eventlocations umwandeln. Nur: Bislang existieren sie eher nebeneinander. „Die Thüringer Industriekultur ist vielerorts so unsichtbar, dass es uns trotz intensiver Auseinandersetzung nicht gelingt, einen flächendeckenden Überblick über andere bestehende Initiativen in Thüringen zu schaffen. Von potentiellen Orten der Industriekultur in Thüringen ganz zu schweigen“, sagt Florian Dossin vom Verein Trafo in Jena.

Dossin nutzt eine Transformatoren-Station von 1901 für Konzerte. Kommunikation und Marketing dieser Locations finden fast ausschließlich über die Sozialen Medien statt – man muss also bereits entsprechend vernetzt sein, um auf dem Laufenden zu sein. Das soll sich ändern. Wer wissen will, was in alten Industriegemäuern los ist, dem soll kulturfabriken.eu nun möglichst viel offenlegen. Zugleich will das Netzwerk gezielt Projekte und Regionen unterstützen.

Das Netzwerk kulturfabriken.eu vereint bislang Aktivisten der Thüringer Szene – von Arnstadt über Erfurt bis nach Jena –, begreift sich aber als mitteldeutsche Initiative.

Eröffnung einer Ausstellung in der Kulturfabrik Apolda

Warum dieser überregionale Ansatz Sinn ergibt, verrät Sebastian Dämmler von der sächsischen IndustrieKulturOst:

„Wir sollten Thüringen und Sachsen verbinden und nicht an der Landesgrenze aufhören, denn die Probleme sind überall die gleichen. Es mangelt am öffentlichen Verständnis für diese besondere Form der Kultur. Hier können wir viel voneinander lernen.“

Insbesondere im ländlichen Raum ist das Missverhältnis zwischen industriekultureller Substanz und deren Wertschätzung deutlich. Während in den Metropolen dienoch verbliebenen historischen Gebäude mit ihren Backsteinmauern und ihrer Patina längst zu Prestigeobjekten geworden sind, fehlen in der Provinz meist Vorstellungskraft und Geduld. Das könnte sich noch fatal auswirken.

Königl. Bahnbetriebhallen in Erfurt – 200 m vom Bahnhof entfernt.

Denn die Provinz sollte wahrnehmen, welche Werte in den Zentren heute selbstverständlich sind. „Dies ist vor allem das interkulturelle Milieu“, so Kobel, „das ist der Humus, auf dem alles gedeiht – nicht nur die Jobs, auch und vor allem die Familienplanung. Dieses internationale Milieu wiederum achtet peinlich darauf, dass die Räume, in denen es zu Hause ist, ihren lokalen Charakter und ihre Authentizität nicht verlieren. Das industrialisierte und genormte Bauen, einst ein Ideal der Moderne, ist heute das Anti-Ideal einer internationalisierten und vielgereisten Jugend. So wird und bleibt der Heimat-Gedanke auch in der Welt der Hipster lebendig: Als Ort der lokalen Verankerung – wenngleich auch einer temporären.“

In anderen Worten: Nichts ist heute uncooler als Neubauten.

In diesem Kontext stellt sich das industrielle Erbe nicht nur als kultureller Wert dar, sondern als immer wichtiger werdender Wirtschaftsfaktor. Industriekultur ist ein unverzichtbarer Bestandteil eines urbanen Umfeldes, das als Angebot für jene fungieren kann und wird, die die Metropolen wieder verlassen wollen: die Rückkehrer. Es werden immer mehr.

Demnächst mehr unter:
www.kulturfabriken.eu
www.industrie-kultur-ost.de

SHARING HERITAGE 2018 – Fazit / Ausblicke der Tagung vom 12. und 13. Juni 2017 im Milchhof Arnstadt zur Thüringer Industriekultur

Blick vom Dach der ehemaligen Wolff'schen Mälzerei in der Thälmannstrasse in Erfurt in Richtung Osten

Fotos: Christian Daether / Jan Kobel
Die im Januar 2017 in Weimar geborene Idee, das spürbare Interesse der bundesweiten Fachwelt an der Thüringer Industriekultur (IK) zu nutzen und zu einem Symposium einzuladen, stieß auf großes Echo. Mit zwölf Referenten aus sechs Bundesländern kamen auch sehr unterschiedliche Aspekte der IK zum Tragen: von der Radroute bis zur Zwangsarbeit, von der Pflege der IK in der DDR bis zu ihrer Umnutzung für Großveranstaltungen.
(siehe auch: https://milchhof-arnstadt.de/2017/06/01/industriekultur-thueringen/)

Prof. Hans-Rudolf Meier (links), Bauhaus-Uni Weimar, und Prof. Dietrich Soyez, Universität Köln

Deutlich wurde, dass Thüringen vor allen gegenüber Berlin und Sachsen einen erheblichen Nachholbedarf hat, was die politische Agenda in Sachen IK betrifft. Das Land Thüringen scheint sich trotz seiner wichtigen Rolle in der industriegeschichtlichen Entwicklung Europas und trotz (oder wegen?) seines neuen Selbstbewußtseins als High-Tech-Standort bis heute eher als Land mittelalterlicher oder barocker Kulturen zu definieren, und in Sachen Kultur die Rolle der IK auszuklammern. Ähnliches gilt für Erfurt: Historische industrielle Architekturen gehören abgerissen, anstatt gesichert, so die allenthalben praktizierte Politik. Unsere Identität liegt irgendwo zwischen Mittelalter und Klassik. Auf jeden Fall nicht in der Industrialisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. SHARING HERITAGE 2018 – Fazit / Ausblicke der Tagung vom 12. und 13. Juni 2017 im Milchhof Arnstadt zur Thüringer Industriekultur weiterlesen

SHARING HERITAGE 2018
Kulturelles Erbe kennt keine Grenzen

Ungebremst dem Verfall preisgegeben: Industriebauten in Neustadt / Orla

Die Veranstaltung ist erfolgreich abgeschlossen worden. Eine Zusammenfassung gibt es hier:
https://milchhof-arnstadt.de/wp-content/uploads/2020/01/17.08_Industriekultur-in-Thüringen_FAZIT.pdf
Zur Fotogalerie geht es hier:
http://galerie.jankobel.de/arnstadt170613/index.html)

Industriekultur in Thüringen
Symposium in Erfurt und Arnstadt / 12. – 13. Juni 2017

mit Unterstützung von:

Europäisches Kulturerbejahr Sharing Heritage / Thüringer Themenjahr Industrialisierung und soziale Bewegungen / 200. Geburtstag von Karl Marx – das Jahr 2018 ist ein Jahr der Rückbesinnung auf unser Industrielles Erbe und soziale Vermächtnisse, in Thüringen und in Europa.
12 Referenten aus sechs Bundesländern kommen nach Erfurt und Arnstadt und lassen uns im Vorfeld des Themenjahres an Ihren Erfahrungen teilhaben.
SHARING HERITAGE 2018
Kulturelles Erbe kennt keine Grenzen
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ein tag im zeichen der klassischen moderne / milchhof arnstadt, 29. Juni 2016 / rückblick

Eine Veranstaltung in einem verfallenden Denkmal, gemeinsam getragen vom Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie unter der Leitung des Landeskonservators Holger Reinhardt und den Eigentümern – so lautete das experimentelle Konzept unter dem Motto bauhaus 2019 – denkmalpflege und die bauten der moderne.
(zur Bildergalerie)
02_denkmal und moderne_06.2016__MG_5836
Drei Objekte des Modernen Bauens, alle auf unterschiedlicher Weise in prekärem Zustand, waren Thema des Tages: der Wartburg-Pavillion von Günther Wehrmann in Eisenach, der Garagenbau von Alfred Arndt in Probstzella und der Milchhof Arnstadt von Martin Schwarz, das am meisten bedrohte Gebäude – und Gastgeber des Kolloquiums. Die zweite Hälfte des Tages war geprägt vom Thema bauhaus 2019 – und wie der Funktionalismus der Moderne gerade in städtebaulicher Sicht immer wieder dieselben Irrwege beschreitet. ein tag im zeichen der klassischen moderne / milchhof arnstadt, 29. Juni 2016 / rückblick weiterlesen

bauhaus 2019 – denkmalpflege und die bauten der modernemilchhof arnstadt, 29. juni 2016 / ankündigung

Im Uhrzeigersinn von links oben: Ausstellungspavillon der Wartburg-Automobilwerke (Eisenach) von Günther Wehrmann (Foto: Archiv Horst Ihling), Garagenbau zum Haus des Volkes (Probstzella) von Alfred Arndt, Milchhof Arnstadt von Martin Schwarz (Urheber unbekannt).

Gemeinsam war Architekten, Planern und Künstlern im Staatlichen Bauhaus in Weimar und seinem Wirkungsfeld der gezielte Bruch mit den gestalterischen und sozialen Konventionen der in den grausamen Schlachten des Ersten Weltkrieges untergegangenen Welt.  Alle Tradition wurde in Frage gestellt, alles Gestalten auf Null gesetzt. Die Zeit der genossenschaftlichen Bewegungen im Wohnen, in der Produktion, im Gewerbe und in den Künsten begann. Die Gründung des Bauhauses 1919 in Weimar fokusierte und beschleunigte in einmaliger Art und Weise und international das, was wir heute Moderne nennen. bauhaus 2019 – denkmalpflege und die bauten der modernemilchhof arnstadt, 29. juni 2016 / ankündigung weiterlesen