Eine Analyse mit Handlungsperspektive
(Titelbild: Kammgarnspinnerei Wernshausen, errichtet 1836-1920, Abriss 2009, © TLDA)
Wir bauen eine neue Gesellschaft, aber diese Gesellschaft darf nicht in die Gehäuse der alten kriechen.
Hans Sharoun, Stadtbaudirektor Berlin 1945/46
Verfasser: Jan Kobel, Judith Rüber, im Januar 2021
A_Abstract / Zusammenfassung und Nachweiszweck:
1) Von allen baulichen Zeugnissen, auf die Deutschland zurückblicken kann, ist ein Gebäudetypus am meisten von Zerstörung bedroht: die Industriearchitektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kein anderer Typus steht so oft leer und kein anderer Leerstand bedeutet so schnell Abriss.
Damit gehen nicht nur Jahr für Jahr wertvolle Architekturen und Denkmäler verloren, die von der Geschichte einer Industriekultur zeugen, die Deutschland bis heute prägt. Diese Abrisse sind auch in ökologischer Hinsicht unverantwortlich, da der Erhalt und die Wiederherstellung dieser Gebäude ein vielfaches nachhaltiger ist als ihr Abriss und eventuelle Neubauten. Schließlich sind diese Fabrikarchitekturen durch keinen Neubau zu übertreffen was ihren Erlebnis- und Nutzwert angeht für Wohnen, Handel, Kunst und Gewerbe.
2) Obwohl diese Erkenntnis nicht neu ist, Deutschland zahlreiche Beispiele erfolgreicher Umnutzungen von Industriekulturen vorweisen kann, ist der Abriss dieser Gebäude nicht gestoppt. Das liegt an zwei Gründen, wie diese Abhandlung nachweisen will:
Zum einen an einem gebrochenem Verhältnis der deutschen Baukultur zu ihrer eigenen Geschichte, die durch zwei politisch-moralische Zusammenbrüche im 20. Jahrhundert geprägt ist, die andere europäische Staaten so nicht erlebten. Dabei kommt der Ideologie und dem Absolutheitsanspruch der Moderne eine nicht unerhebliche Rolle zu: Schön und gut ist bis heute nur, was neu ist!
Zum anderen der ungebrochenen Bereitschaft des Bundes und der Länder, erhebliche Mittel für sog. „Brachenberäumungen“ zur Verfügung zu stellen. Das erscheint problematisch vor allem deshalb, weil diese Mittel ausgeschüttet werden völlig getrennt davon, inwiefern die durch diese Gelder ins Werk gesetzten Abrisse tatsächlich ihrem Anspruch, Flächen „wiederzubeleben“, gerecht werden. Wie gezeigt werden kann, sind diese Mittel nicht nur Voraussetzung für viele Abrissprojekte, sondern ihr Motor. Bund und Ländern kommt hier eine Verantwortung zu, die nur selten diskutiert wird.
3) Deshalb kann ein ernsthafter Versuch, dem deutschen Abrisswahn gegen (nicht nur, aber insbesondere) die unwiederbringlichen Industriearchitekturen unseres Landes entgegenzutreten, nur darin bestehen, die Fokussierung auf denkmalpflegerische Aspekte auszuweiten auch auf Aspekte der ökologischen Nachhaltigkeit, der gewerblichen Nutzungspotenziale und der positiven sozialen Folgeeffekte für Städte und Kommunen. Zugleich muss es gelingen, die Bundes- und Landesbehörden von der wirtschaftspolitischen und stadtplanerischen Schädlichkeit ihrer Vergabepolitik zu überzeugen. Eine Petition an den Deutschen Bundestag ist in Vorbereitung.
B_Argumentation & Fallbeispiele / Zur zerstörerischen Dialektik des Begriffes Schandfleck
Dass ungenutzte Gebäude mehr oder weniger dem Tode geweiht sind, ist auch in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Bei Kirchen, Schlössern und Burgen haben wir gelernt, dass man sie nicht abreißen darf, auch wenn sie über Jahrzehnte ungenutzt bleiben. Hier herrscht ein Tabu, und das ist gut so. Bei profanen Gebäuden und industriellen Bauten ist das noch anders. Insbesondere die ostdeutschen Zeugen der industriellen Umwälzungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die den Abrisswellen der BRD bis 1990 entzogen waren, verschwinden, sofern sie nicht neue Nutzungen gefunden haben, Jahr für Jahr zu Dutzenden. Die Verluste sind erheblich.
Das mag auf den ersten Blick erstaunen. Die positiven Beispiele der IBA Emscher Park und der Europäischen Kulturhauptstadt Essen 2010 liegen hinter uns, Chemnitz wird nicht zuletzt wegen seiner beeindruckenden Industriegeschichte Kulturhauptstadt 2025, das Land Sachsen thematisierte 2020 im Rahmen eines Themenjahres seine herausragende Rolle in der deutschen Industriegeschichte in zahlreichen Ausstellungen, und das Land Thüringen beschloss erstmalig, das Thema Industriekultur getrennt von einzelnen Projekten zu fördern: Es unterstützt unter anderem eine Plattform, die den Erhalt und die Nachnutzung von Industriegebäuden zum Ziel hat und dafür auch die Akteure vernetzen und öffentlich sichtbar machen möchte.
Zahlreiche Institutionen, Vereine und Unternehmen aus den Ländern Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt haben sich in der Metropolregion Mitteldeutschland zusammengeschlossen, und messen dort dem Thema Industriekultur einen hohen Stellenwert bei. In der thüringischen Landeshauptstadt hat es eine Initiative aus Bürgern und Stadträten immerhin soweit geschafft, dass der Abriss der ehemaligen Königlichen Bahnbetriebshallen direkt neben dem Hauptbahnhof erstmal abgesagt ist, Eigentumsfragen scheinbar geklärt und neue Nutzungen im öffentlichen Diskurs sind.
Bundesweit thematisiert die Bundesstiftung Baukultur unter anderem die Wiederentdeckung der Industriekultur mit hochbesetzten Veranstaltungen in Berlin. Und an den deutschen Universitäten werden mit viel Geld interdisziplinäre Diskurse gefördert, die sich, wie an der Bauhaus-Universität in Weimar, unter der Überschrift Identität und Erbe mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedeutung der steingewordenen Fabrikkulturen befassen.
Der Schein trügt
Man könnte also vermuten, dass ein seit langem gefordertes Umdenken in Politik und Verwaltung zugunsten des Erhalts des industriellen Erbes stattfindet und wir mit den Architekturen unserer Industriegeschichte nicht minder respektvoll umgehen als mit unseren Kirchen, Burgen oder Schlössern. Auch – und gerade – dann, wenn wir temporär keine Nutzung für sie haben.
Leider kann davon nicht die Rede sein. In einer geradezu befremdlich anmutenden Hartnäckigkeit werden in Deutschland täglich Entscheidungen gegen geschichtliche Architekturen gefällt, nicht selten unter dem Applaus von Medien und Öffentlichkeit über die Entsorgung „dieser Schandflecken“. Entscheidungen, die keiner wirtschaftlichen Rationalität folgen, auch wenn der Anschein einer solchen gerne erzeugt wird. Es zeigt sich vielmehr, dass diesen Entscheidungen Haltungen zugrunde liegen, die sich nur aus einem soziokulturell gestörtem Verhältnis der Akteure zu den baulichen Zeugen der deutschen Geschichte erklären lassen.
Dass dabei Neubau stets als die beste Lösung unterstellt ist, zeugt davon, dass weder die Kosten des Abrisses noch die Ökobilanz eines Neubaus in die Kalkulation mit eingehen. Lobbygetriebene Energie-Einspar-Verordnungen sorgen darüber hinaus dafür, dass der Anschein entsteht, man könne nicht energetisch angemessen im Bestand planen und sanieren. Im folgenden einige Beispiele:
Schandfleck (1): Industriearchitektur ist dem „Gewerbegebiet“ im Wege
Am 29.12.2020 meldet MDR-Thüringen stolz den geplanten Abriss dieser alten Schokoladenfabrik in der im Kyffhäuserkreis gelegenen Stadt Greußen:
In den sozialen Medien finden sich sogleich Beiträge, dass es nun „endlich vorwärts geht und der Schandfleck „Alte Schokoladenfabrik“ verschwindet“. Das Land Thüringen leitet 90% von zwei Millionen Euro an die Kommune weiter, um den Abriss zu finanzieren. Niemand kommt auf die Idee, was man mit zwei Millionen Euro aus den Gebäuden, deren Dächer und Etagen wohl weitgehend eingefallen sind, unter Einbindung der Naturstein-Fassaden, Gesimse etc. neu errichten könnte. Oder ob sich diese Architekturen nicht auch als spannende Heimstätte für eine gewerbliche Nutzung, einen Handwerkerhof, Lofts o.ä. eignen könnten. Ein Erhaltungsgutachten wurde auch hier nicht erstellt. Welche gute Bausubstanz hier am Greußener Bahnhof zerstört werden soll, verdeutlich dieser Beitrag eines Lost-Places-Fotografen, ein weiterer Artikel der TLZ beleuchtet ein paar Hintergründe.
Stattdessen setzt eine Stadtverwaltung darauf, eine geräumte Brache zu schaffen, die sie dann in der Hoffnung erschließen kann, Gewerbegrundstücke zu verkaufen. Davon, dass es dafür bereits Käufer oder Verträge gäbe, ist nicht die Rede, nur unverbindlich von „Interessenten“. Auch ist unklar, wieso in einer Kommune in einer extrem dünn besiedelten Region, in der es keinerlei Baudruck gibt, ein Gewerbegebiet unbedingt dort entstehen muss, wo bereits eine historisches Bauwerk steht?
Absurditäten dieser Art sind keine Ausnahme. Beispiel Sachsen. 2016 wurde in Lugau die letzte komplett erhaltene Spinnerei der Frühindustrialisierung in der berühmten Palastarchitektur abgerissen, 2017 die ebenso komplett erhaltene Spinnmühle aus dem frühen 19. Jahrhundert in Tannenberg. 2019 schließlich musste die Spinnerei in Himmelmühle bei Wiesenbad/Erz von 1834(!) weichen. Sie war das größte erhaltene Industriegebäude der Frühindustrialisierung in Mitteleuropa, ein Meilenstein aus einer Zeit, als die Industrialisierung noch keine Dampfmaschine kannte.
Das Gebäude befand sich viele Jahre im Privatbesitz und ging 2018 über in den Besitz der Stadt, welcher der „Schandfleck“ seit langem ein Ärgernis war. Kurz danach riss ein Bagger ein riesiges Loch in das Mauerwerk des geschützten Baudenkmals. Zerstört wurde auch das Treppenhaus, wodurch eine Bergung von Bauelementen nicht mehr möglich war. In der Folge begutachtete das Denkmalamt die Ruine und stimmte dem Abriss zu. Deutschland hatte eines seiner wichtigsten Industriedenkmäler verloren. Bis heute steht auf dem Areal: Nichts.
Nur zwei Beispiele von vielen. Die zuständigen Verwaltungen erkennen nicht das in den Gebäuden enthaltene einmalige Entwicklungspotentialfür ihre Kommune. Sie kennen nur ein einziges „Entwicklungskonzept“: den Ausweis von Neubau-Gewerbegebieten. Dieses Konzept stammt aber aus den 90er Jahren und ist hoffnungslos veraltet, da heute neue, völlig andere Kriterien gelten für gewerbliche Standortentscheidungen. Da aber fast alle Kommunen so verfahren, ist die Ernüchterung meist groß. Die „Investoren“ bleiben aus.
So war das auch bei Thüringens krassestem Fall von Missbrauch öffentlicher Fördermittel für Abriss, der Kammgarnspinnerei in Wernshausen, deren stolzes Abbild oben diesen Artikel eröffnet, und die bis ins Jahr 2004, zumindest in Teilen, industriell genutzt wurde. Der Abriss des noch kurz zuvor in den 90er Jahren mit öffentlichen Geldern sanierten Gebäudes wurde im Jahre 2009 mit 3,6 Mio. Euro(!) vom Land unterstützt, ebenfalls unter dem Vorwand, hier ein Gewerbegebiet zu errichten. Bis heute schaut dieses „Gewerbegebiet“ so aus:
In Wikipedia liest man hierzu:
Das Ensemble stellte ein einzigartiges Industriedenkmal Südthüringens dar. Es stand seit 2002 unter Denkmalschutz. Von besonderem kulturellen Wert war das Verwaltungsgebäude mit Eingangsloggia und in weiten Teilen original erhaltener Ausstattung (Bleiglasfenster mit Motiven der Wollverarbeitung, Fresken im Foyer, Holzvertäfelung und Stuckdecken) sowie der Spinnereihochbau mit über 15000 m³ Nutzfläche auf fünf Etagen. (…)
Der Beschluss zum Abriss wurde vom ehemaligen Wernshäuser Bürgermeister Rainer Stoffel mit Unterstützung des Landrats Ralf Luther (CDU) und der Thüringer Landesregierung gefällt und wurde seit Mitte Januar 2009 umgesetzt.
Ein großes, denkmalgeschütztes, hochwertig gebautes und ausgestattetes Industrieensemble aus den Jahren 1836 bis 1920, überwiegend noch gut erhalten, wird zerstört mit Mitteln der Öffentlichen Hand, ohne dass eine verbindliche Neunutzung des Areals in Planung ist, die diese Aufwendungen gesellschaftlich rechtfertigen würde. Das wirft Fragen auf. Möchte man meinen.
Dass das angeblich beabsichtigte neue Gewerbegebiet an der B19 in im Süden Thüringens nie entstanden ist, interessiert aber heute keinen mehr. Die Verantwortlichen, Minister, Landrat oder Bürgermeister, müssen weder vor der Öffentlichkeit, noch vor den Rechnungshöfen Rechenschaft für ihr Versagen abgeben.
Wenn es denn ein Versagen war?
Denn die Wahrheit liegt vielleicht doch ein gutes Stück woanders.
Schandfleck (2): Der Abrisswille als Eigenschaft von Architektur
Wer, wie die Autoren dieser Zeilen und ihrer Mitstreiter*innen, seit Jahren gegen Entscheidungen wie die hier angeführten ankämpft, anschreibt, argumentiert, Alternativen aufzeigt, auf erfolgreiche Wege der Umnutzung verweist oder kommunale Win-Win-Strategien vermitteln will, lernt schnell, wie wenig diese Alternativen auf Interesse stoßen bei Stadträten, kommunalen Wohnungsbau-Geschäftsführern oder Bürgermeistern.
Es verhält sich nämlich so, dass eine Widerlegung der angeblichen Notwendigkeiten, die einen Abriss unumgänglich machten, nicht möglich ist. Weder der Hinweis, dass es in der kommunalen Provinz meist noch leerstehende Brachen für Gewerbegebiete in großer Zahl gibt, noch das Argument, was man nur mit Teilen des für den Abriss aufgewendeten Geldes wieder herrichten könnte, verfangen. Der Wille zum Abriss ist stets ABSOLUT. Er sucht sich seine Begründungen ex post, und stört sich dabei nicht an Widersprüchlichkeiten oder Absurditäten. Der „Schandfleck“ muss weg!
Mit dem Widerstand, wie er gelegentlich auch aufflammt aus Kreisen des Denkmalschutzes, des Stadtrates (in Wernshausen war es die kommunale LINKE, die opponierte) oder einer engagierten Bürgerschaft, wächst so nicht etwa die Bereitschaft, die Abrisspläne zu überdenken, sondern der beinharte Wille, „es durchzuziehen“. Initiativen von unten sind grundsätzlich chancenlos, selbst wenn sie gangbare Alternativen aufzeigen oder anbieten – es sei denn, es gelingt ihnen, höhere Stellen von Land oder Bund zu mobilisieren, was natürlich nur ausnahmsweise der Fall ist.
Der Begriff Schandfleck spielt dabei immer eine besondere Rolle. Es erweist sich als vorteilhaft, dass jedes Gebäude, das ein paar Jahre ungeschützt leer steht, durch Vandalismus, Brandstiftung, Bewuchs, Wetter und Frost rasch und sichtbar verfällt. Bei Gebäuden in öffentlicher Hand ist das ein Versagen der Verwaltungen, bei privaten Spekulanten aber auch, da jede Bauaufsicht durchaus Mittel hat, den Eigentümer zu erhaltenden Maßnahmen zu verpflichten, erst recht, wenn ein Gebäude unter Denkmalschutz steht. Es gehört jedoch zu den Usancen des kommunalen Bauaufsichtswesen, dass von diesen Rechten nur in extrem seltenen Fällen Gebrauch gemacht wird. Die Gebäude sollen verfallen, denn je schneller sie verfallen, desto schneller wird man sie los.
Ob ein historisches Haus ein „Schandfleck“ sei, ob es „total verschwammt“ oder „verseucht“ oder anderswie (Asbest!) „unsanierbar“ sei: selten nur handelt es sich um sachliche Aussagen über einen baulichen Zustand, meist um Projektion der eigenen Absichten in den Zustand der Architektur. Wenn überhaupt, berühren solche Diagnosen Kostenfragen und somit Fragen gesellschaftlicher Wertschätzung. Im Zweifel helfen tendenziöse Gutachten nach, die für Gerichte nur schwer zu überprüfen sind und, wenn sie doch mal überprüft werden, immer nur eines beweisen: Nicht der baufällige Zustand erzwingt den Abriss, sondern der Abrisswille sucht sich seine Legitimation.
Es stellt sich also die Frage nach der tatsächlichen Motivation der Verantwortlichen.
Schandfleck (3): Architektur als Symbol der Schande
Um die tiefere Bedeutung des deutschen Begriffs Schandfleck zu verstehen, ist es unverzichtbar, in die Geschichte der Nachkriegszeit(en) zurückzugehen. Denn das Verhältnis der Deutschen zu ihrer (Bau-)Geschichte hat einen schweren Knacks, entstanden durch eine einmalige Leistung der deutschen Nation, die weltweit vermutlich nur sie in dieser Vollendung für sich beanspruchen kann: die Niederlage innerhalb kürzester Zeit in zwei Weltkriegen, die man selbst großspurig vom Zaun gebrochen hatte.
Durch diese doppelte Zäsur von 1918 und 1945 hat Deutschland zweimal hintereinander, im Zeitraum von nur einer Generation von 27 Jahren, vor der Notwendigkeit gestanden, einen Neustart hinlegen zu müssen und zwar in jeder Hinsicht: politisch, sozial, wirtschaftlich, moralisch, ästhetisch, architektonisch. Ja, auch ästhetisch und architektonisch!
Dieses gesellschaftliche Bedürfnis nach einem Neustart war Wasser auf die Mühlen einer sich bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg formierenden Moderne, die radikal alles ablehnte, was vor ihr war. Walter Gropius nutzte die Wirren nach der Niederlage des Kaiserreichs geschickt zur Gründung des Bauhauses 1919. Das moderne Bauen und mit ihm die Ideologien der „Zweckmäßigkeit“ und „Sachlichkeit“ des Gestaltens wurden zum Anspruch einer deutschen Elite, übrigens vor dem Bauhaus und weit über es hinaus.
Mit der zweiten, noch drastischeren Zäsur von 1945 schließlich war die Moderne nicht mehr nur die Haltung einer gestalterischen Elite. Sie avancierte in fast allen deutschen Städten zum Inbegriff des Zeitgemäßen, ihre Vertreter übernahmen die Führungsfunktionen in den Verwaltungen (Hans Scharoun in Berlin), das Auto und das moderne (amerikanische) Leben gaben den Rhythmus vor. Fast niemand mehr, bis zum einfachen Handwerker oder Häuslebauer, konnte in Jugendstil, Historismus, Fachwerk oder klassizistischem Stuck noch etwas Schönes oder Schützenswertes erkennen. „Ornament“ und „bloßer Zierrat“ waren des Teufels.
Dass die Nationalsozialisten in ihrem eigenen Verständnis von heroisch-repräsentativer Sachlichkeit ebenso wie die Moderne Jugendstil und Schmuckwerk fast aller Art verachteten, nur eben als „undeutsch“, passte da nur zu gut in eine sich neu formierende deutsche Nachkriegsästhetik der Moderne. Kontinuität im Wandel.
Auf einem Berliner Blog von 2012 über die Geschichte der Gaslaterne in Berlin findet sich dazu folgende Beobachtung von Carl Nicolas Hofer:
Die deutsche Hauptstadt war durch den letzten Krieg und die alliierten Bombardements schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Trotzdem war vieles wieder herstellbar. Aber die Berliner Senatsbauverwaltung im Westteil der Stadt wollte aus ideologischen Gründen mit der Vergangenheit brechen und sich modern geben. Politiker wie der spätere Bausenator Rolf Schwedler bekamen Oberwasser und setzten eine beispiellose Abrisswelle in Gang, die auch vor historisch wertvoller Bausubstanz nicht Halt machte. So wurden nach später veröffentlichten Zahlen in der Ära Schwedler mehr Gebäude in Berlin zerstört als durch die Bomben des Krieges.
Ganze Stadtviertel wurden gesprengt, häufig auch um Platz für Autobahntrassen und Schnellstraßen zu schaffen. Auch die Ideologie der Entstuckung geht auf Schwedler zurück. Der Hass auf das vermeintlich Alte war so groß, dass man Prämien aus der Landeskasse an Hausbesitzer ausschüttete, damit sie an ihren Häusern Stuck und anderen Zierrat abschlugen. Die Stadt verlor an vielen Stellen ihr denkmalwürdiges Aussehen und ist heute in großer Zahl von seelenlosen langweiligen Rauhputzhäusern vollgestellt. Aber man hat nichts aus diesem unsäglichen Verhalten gelernt.
Was der Autor hier beschreibt, ist eine Identifizierung von Architektur mit moralischen Haltungen, sind ideologische Zuschreibungen von Architektur, die der Moderne von Anbeginn zueigen waren. Denn die ästhetische Moderne des 20. Jahrhunderts begnügte sich nicht damit, ein neues, schlichtes und schmuckloses Bauen und Gestalten zu propagieren (was ja durchaus eine eigene Qualität darstellen kann). Sie verstand dieses ästhetische Programm zugleich als Kampfansage gegen jede Form des traditionellen Bauens:
„Wir begründen eine fundamental neue Ästhetik. Es bleibt uns nichts mehr von der Architektur früherer Epochen,“
postulierte LeCorbusier schon 1927. Eine Äusserung, die angesichts der Leistungen der Architektur von Romanik, Gotik und Renaissance bis zum Klassizismus, vom Kirchen- und Villenbau bis zur Industriearchitektur nicht nur einigermaßen anmaßend erscheint, sondern die auch den Zerstörungswillen bereits in sich birgt.
Schandfleck (4): nur neue Architektur ist gute Architektur
Die Moderne wollte nicht einen weiteren neuen Baustil formulieren, der sich einreiht in die Geschichte der europäischen Bautraditionen. Sie wollte als Baustil – wissenschaftlich begründet, selbstverständlich – der bauliche Ausdruck des absolut Wahren, Schönen, Guten und Fortschrittlichen sein. Für die Geschichte des europäischen Bauens, insbesondere der die deutschen Städte prägenden Architektur des 19. Jahrhunderts, blieb konsequenterweise nur Verachtung übrig.
Deutschland war dasLand der Moderne in Europa bis 1933, und Deutschland brauchte nach 1945 den totalen Neustart, einen Schnitt gegen die Geschichte und die damit verbundene Schande, gegen Versagen und Grausamkeit. Es suchte einen allfälligen Symbolismus des Fortschritts, wie ihn die moderne Architektur liefern wollte, und wie er sich in rabiaten Abriss- und Abschlag-Orgien und geglätteten Rauputz-Fassade öffentlichkeitswirksam beweisen konnte. Ornament war doch Verbrechen! Also weg damit! Es war, als sollte die Architektur der Kaiserzeit büßen für das Unheil, das über das Land gekommen war, und als sei mit deren Abriss auch jeder „Ungeist“ für immer verbannt.
Dieser Symbolismus des neuen guten Deutschlands ging wunderbar einher mit der reibungslosen Fortschreibung nationalsozialistischer Karrieren in eben dieser BRD. Gerade weil die Überzeugungen der Deutschen – übrigens in West und Ost – sich kaum geändert hatten, rassistische, völkische oder nationalistische Haltungen vielleicht etwas angepasst („Versöhnung“, „Völkerfreundschaft“), aber nicht kritisiert und überwunden wurden, deshalb kam es ja so sehr auf diesen äußerlichen Symbolismus an, der der Welt zeigen sollte: Wir sind jetzt eine moderne Demokratie.
So wurde die Moderne zum Mythos der jungen Bundesrepublik, eifrig gepflegt in den Fakultäten ihrer Universitäten, in den Stiftungen und Institutionen, in der Architekturkritik und den Feuilletons. Dieser Mythos schrieb sich, mit seinen sprossenlosen Fenstern und den gereinigten und leicht zu reinigenden Oberflächen, nach und nach ein in ihre soziale DNA. Dass Walter Gropius und Mies van der Rohe, die Bauhäusler und deutschen Architekten, die Hitler trotz ihrer Anwanzereien einfach verstoßen hatte, in den USA zwischenzeitlich zu Helden avanciert waren, passte einfach zu perfekt.
In der DDR blieben die meisten Gebäude erst einmal stehen wie sie waren, da sie dringend benötigt wurden, das Land jahrzehntelang Reparationen an die SU zu leisten hatte und das Geld für Neubauten nur für wenige Vorzeigeobjekte vorhanden war. Hier gingen die Ideen der Moderne vielleicht etwas weniger ideologisch, dafür praktisch in die Baukultur ein, vor allem in die industrielle Fertigung von Bauelementen (Plattenbau).
So kam es, dass zur Wende vor 30 Jahren im Osten noch viel mehr an historischen Gebäuden stand als im Westen – ein Befund, der verbunden war mit der Hoffnung, die Fehler der alten BRD nun nicht mehr zu wiederholen. Diese Hoffnung hat sich nur eingeschränkt bestätigt. Auch wenn viele ostdeutsche Altstädte heute wieder rausgeputzt sind – der Abrisswahn ist ungebrochen.
Dass diese durch die Ideologien der Moderne geprägte Verachtung alter Gebäude sich heute auch zunehmend – zur Verzweiflung der deutschen Architekten – gegen die Bauten der Klassischen und Nachkriegs-Moderne selbst richtet, auch die der DDR, ist eine bittere Ironie der Geschichte, widerspricht diesem Befund jedoch nicht. Ein besonders dreistes Beispiel, wie sich der deutsche Abrisswahn, genau wie hier beschrieben, gegen ein Baudenkmal der 20er Jahre richtet, ist der Abriss des Kurpark-Kolonnaden in Bad Neuenahr – für nichts und wieder nichts und gegen bundesweiten Widerstand aus allen Ecken. Es wird dort absehbar nichts entstehen, aber das Baudenkmal ist weg.
Schandfleck (5): eine deutsche Besonderheit?
Natürlich gibt es skandalöse Abrisse auch in anderen europäischen Ländern, wo historische Bausubstanz dem privaten Geschäft oder der staatlichen Repräsentation im Wege ist. Festhalten lassen sich jedoch zwei Unterschiede zwischen Deutschland und dem Rest Europas.
Erstens: In Länden wie Italien, Frankreich, Belgien, England und – wie wir erfahren durften, sogar den USA – gibt es einen ungebrochenen Stolz auf die eigene Baugeschichte, unabhängig von einem distinguierten Geschmack. Saniert wird grundsätzlich mit mehr Respekt vor der Gestaltung der Großväter, man verwendet selbstverständlich historische Materialien und es braucht keine Zwangmassnahmen, um die Menschen einer Kommune dazu zu bewegen, die gleichen Dachziegel zu verwenden, wie sie dort seit Jahrhunderten üblich sind.
In diesen Ländern dürfen Böden und Bäder bleiben, und wenn sie defekt sind, werden sie repariert. Hier reißt niemand gut erhaltene originale Holzfenster heraus, um sie durch klobige Thermoverglasungen zu ersetzen, die kein Geld sparen, aber das Raumklima verschlechtern. Auch die geradezu zwanghafte Manier, in Bestandsimmobilien jede Wand durch Trockenbau zu verblenden, jede Decke abzuhängen und jeden Fussboden durch stinkendes Laminat zu verbergen, ist in Resteuropa weit weniger verbreitet.
Der Deutsche aber erträgt es nicht, wenn etwas schief und alt ist. Er weiß nicht warum, aber er empfindet es so. Schön ist nur was neu ist. Was alt ist gehört ins Museum. Leben kann man darin nicht. Eine ästhetische Ideologie ist zu einem längst generationsübergreifenden nationalem Empfinden und Fühlen geworden. Der Ausgangspunkt, die Abwehr einer nationalen Schande durch die Vernichtung der an die Geschichte erinnernden Architektur, mag lange vergessen sein. In dem Wort Schandfleck aber lebt sie hartnäckig weiter.
Zweitens: die Tragödie der deutschen Abrisskultur liegt nicht darin, dass für neue Bauprojekte wertvolle Bausubstanz abgerissen wird, die noch sanier- und nutzbar gewesen wäre. Das dürfte, bedauerlich genug, überall in der Welt so sein. Die wahre Tragödie besteht darin, dass abgerissen wird, auch und gerade dort, wo es keine konkrete Nachnutzungfür das abgeräumte Gelände gibt. Es wird abgerissen, weil man den „Schandfleck“ nicht mehr sehen mag – und weil ein Bürgermeister sich damit schmücken kann und möchte.
Wenn er nämlich – und es sind fast ausschließlich Männer – als Stadtoberhaupt schon nicht in der Lage ist, zu punkten mit dem, was er geschaffen hat, dann mit dem, was er vernichtet hat. Abriss ist ein Pluspunkt im Leistungsverzeichnis von Verwaltungen. Vor allem dann, wenn die Finanzierung zu 100% von der EU und dem Land übernommen wurde. Großartig.
Schandfleck (6): Erst abreissen, dann planen
„Abriss“ ist ein böses Wort. Vielleicht sollten man es besser so formulieren, wie es bei den für die Fördermillionen zuständigen Landesbehörden üblich ist: „Brachenberäumung“ oder, noch schöner: „Revitalisierung(!) von Brachflächen“. Damit kommen wir zum Kern des Problems. Denn so irrsinnig der deutsche Reinheits- und Abrisswahn auch ist, er wäre mittellos und tendenziell unwirksam, wenn er nicht auf schier unerschöpfliche Geldmittel Zugriff hätte.
Während im Bereich der Denkmalpflege seit eh und je die Mittel so knapp bemessen sind, dass die Landesämter stets nur wenige ausgewählte Objekte fördern können und zugleich die Rechtsvorschriften den Eigentümern immer mehr Möglichkeiten eröffnen, die Unter-Schutz-Stellung zu umgehen, sind für einzelne Abrisse, wie wir gesehen haben, enorme Mittel im siebenstelligen Bereich vorhanden. Immer und immer wieder.
Dies liegt ganz einfach daran, dass in Deutschland den für Wirtschaft und Infrastruktur zuständigen Ministerien der Löwenanteil der europäischen und Bundesmittel zusteht, die Denkmalpflege jedoch nicht unter „Wirtschaft“, sondern unter „Kultur“ verbucht wird, welche bekanntlich ein Luxus ist, den man sich gerne auch leistet, der angeblich aber nicht relevant ist für den Erfolg der Republik.
Dass, wie sich am Beispiel der Greußener Bauruine schön zeigen ließe, sich diese Bereiche in weiten Teilen überlappen, ein gelungenes Soziokulturprojekt unter Einbeziehung der schützenswerten Bausubstanz dort natürlich auch wirtschaftlich viel bewegen würde, wird nicht erkannt. „Wirtschaft fördern“ heißt angesichts ehemaliger Gewerbezonen und -Architekturen nur: abreissen, aufräumen, tabula rasa. Danach erst planen und sehen wir weiter. Über das Unkraut ins: Nichts.
Förderung wird in diesen Behörden nur gedacht als Schaffen von Voraussetzungen, soll heißen, keinen möglichen Investor irgendwie zu behindern. Es ist ein Zeichen von planerischer Schwäche und wirtschaftspolitischer Ahnungslosigkeit, was diese Programme in der Tiefe der Provinz anrichten. Niemand scheint hier gewillt, neue, kreative, kluge und auch international längst vorgezeichnete Wege zu beschreiten.
Der Skandal besteht auch darin, dass diese provinzielle Ahnungslosigkeit keineswegs nur dort anzutreffen ist, wo man sie vermuten dürfte: in den Verwaltungen der kleinen Kommunen oder Kreise. Das Problem sitzt in Wirklichkeit in Brüssel und Berlin, dort wo Förderstrukturen aufgebaut, Richtlinien vorgegeben und Budgets zugeschnitten werden. Wie kann es sein, dass Abrissmillionen zugesagt werden, ohne dass jemals die Frage, wie sinnvoll diese Gelder eigentlich verausgabt werden, von den zuständigen Behörden kritisch überprüft wird?
Schandfleck (7): Weg damit, bevor es zu spät ist!
Man könnte auch erwarten, dass die Behörden, die über die Vergaben solcher Summen entscheiden, in der Lage sind, die Verwaltungen vor Ort an die Hand zu nehmen und mit ihnen erstmal die Alternativen zu diskutieren unter Berücksichtigung des Erhalts der Bausubstanz. Finanziert der Bund nicht eine Stiftung Baukultur, die regelmäßig hunderte von hochgebildeten Personen aus allen Bereichen des Bauens und der Stadtentwicklung versammelt, um über die Perspektiven des Bauens in Deutschland zu beraten? Gibt es nicht dutzende von weiteren Stiftungen und staatlichen Einrichtungen, die sich mit solchen Fragen befassen und die kompetent beraten könnten?
Besucht man die Webpage der Stiftung Baukultur (zum Beispiel) und sucht dort Beitrage zum Thema Industriekultur, stellt man fest, dass das Thema durchaus präsent ist, jedoch ausschließlich als Präsentation und Auflistung erfolgreicher Beispiele der Umgestaltung und Neunutzung. Das Scheitern Deutschlands jedoch am Erhalt einer Industriekultur gerade dort, wo keine bewahrende und vorausschauende Vernunft gegeben ist, wird ausgeblendet. Neben der Analyse der wichtigen Leuchtturmprojekte, wie sie überall in Deutschland auch entstehen, wäre ein Wirken dieser Thinktanks in der Fläche aber dringend erforderlich.
So wirken die Institutionen des Bundes nebeneinander her: Während die einen auf Kongressen in vorbildlich wiederhergerichteten industriellen Denkmälern ihre Vorzeigeprojekte präsentieren, verausgaben die anderen die Millionen, die zur Zerstörung des baulichen Erbes des Landes notwendig sind. Das aktuellste Beispiel dafür, dass diese Zerstörungswut kein Ende kennt, findet sich in Oelsnitz, wo mit neun Millionen Euro(!) Förderung unter dem Jubel der Medien ein Teppichwerk mit Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert abgerissen wird. Es soll sogar schon Interessenten geben für die dort entstehende Brache.
Das Sächsische Vogtland tut sich auch mit Plauen hervor, wo leerstehende Wohnbauten der Gründerzeit abgerissen werden – mit der stolzen Perspektive, das dort, kein Scherz, „Rasen gesäht“ werden solle. Auch hier freuen sich sehr einfach gestrickte, ihrer Stadtverwaltung nacheifernde MDR-Redakteure über das Ende der „Schandflecken“ in ihrer Stadt.
Wer, wie die Autor*innen dieser Zeilen, das Innenleben von kommunalen Verwaltungen kennt, weiß, dass die Verantwortung der Landes- und Bundesbehörden für diese Vernichtungsorgien sogar noch weiter reicht als nur bis zur Finanzierung.
Es verhält sich nämlich so, dass die Mittel zur „Revitalisierung von Brachflächen“ wie es irreführend heißt, stets nur als zeitlich befristetes Programm zur Verfügung stehen, womit die kommunalen Bauämter natürlich so umgehen, dass es dort regelmäßig heißt:
„Jetzt können wir diese Gelder abrufen, wer weiß wie lange noch!“
In anderen Worten: Der Bund und die Landesministerien für Infrastruktur, Bau oder „Heimat“ finanzieren nicht nur Abrisswünsche, sie erzeugen sie geradezu! Ist das eine Programm ausgelaufen, folgt zwar sofort das nächste, aber dieses könnte ja wieder das letzte sein, usw. Das Resultat sind Brachflächen überall. Die Zuständigen von Bund und Land schrecken noch nicht mal davor zurück, sich auf den von ihnen erzeugten Wiesenflächen mit hochwertigen Edelstahl-Stelen stolz als Täter zu präsentieren.
Eine Diskussion über diese skandalösen Zustände findet nicht statt. Nicht in den Medien, nicht in den Feuilletons, nicht in den Thinktanks der Bundesrepublik Deutschland, wo man sich vielleicht hin und wieder über die „Sinnlosigkeit“ des einen oder anderen Abrisses empört, aber selten weiter denkt als bis hierhin. Zu wenig werden die fördertechnischen Strukturen thematisiert, die diesen Raubbau erst ermöglichen, so gut wie gar nicht die schwer nachzuvollziehende und zu erklärende Lust am Abriss und der Zerstörung von Architektur in diesem Land.
Schandfleck (8): Eine Diskussion findet nicht statt
Einen Bezug herzustellen zwischen dem deutschen Abrisswahn und der Moderne, noch dazu in dieser direkten Form, gleicht einem Affront und einem Tabubruch. Die Klassische Moderne, die erst im Jahre 2019 unter dem Stichwort „Bauhaus“ gefeiert wurde, ist längst eine internationale Marke, wenn nicht ein Adelsschlag für Deutschland. Der Begriff Bauhaus ist eine Macht, ein Ruf wie Donnerhall, nicht zuletzt in jede einzelne der über 3000 chinesische Universitäten hinein. Dabei wird dieser Begriff, notabene, nicht nur als Ausweis fortschrittlicher Architektur verstanden, sondern als eine Methode oder Haltung des Bewertens und Gestaltens. Da aber das Bauhaus nur ein Kapitel des Buches Modernewar (ein Kapitel noch dazu mit viel Legende und Übertreibung), geht es hier nicht um die Schule des Walter Gropius, sondern tatsächlich um die Moderne als deutsche Bewegung.
Aber das sind Spitzfindigkeiten. Ob Bauhaus oder Moderne, der architektonische Kanon in den Fakultäten, Planungsbüros und in der Architekturkritik betrachtet die Klassische Moderne des frühen 20. Jahrhunderts als notwendige Antwort auf die „historisierende Orientierungslosigkeit“ des 19. Jahrhunderts und als nicht weiter zu hinterfragende Grundlage alles architektonischen Denkens. Natürlich gab es auch hier immer wieder kritische Rückblicke, insbesondere im Städtebau schon in den 70er Jahren. Aber warum haben sich die für die architektonischen und städtebaulichen Fragen zuständigen Eliten eigentlich nicht gefragt, wieso ihre Warnungen, Wegweisungen und Wertzuschreibungen von 98% der in diesem Land für das Bauwesen Zuständigen nie gehört werden?
Der Verlust der Bausubstanz, die unsere Großväter und deren Väter und Großväter geplant und gebaut haben, ist auch deshalb so schmerzhaft, weil sich mit der unabweisbaren Industrialisierung des Bauens nicht nur ein (diesmal wirklich) „internationaler Stil“ weltweit durchsetzt, konkurrenzlos insbesondere im Gewerbebau mit kubisch angeordneten Betonrahmen, einer verkleidenden Hülle und Dämmmaterialien. Lokale Besonderheiten gibt es keine mehr.
Einschneidender aber ist die Erkenntnis, dass in der Industriearchitektur des 21. Jahrhunderts endgültig nicht mehr massiv gemauert wird, Stein auf Stein, so wie noch in der klassischen Moderne der 20er Jahre oder auch noch mit den Bauten der Nachkriegsmoderne. Es gibt keine Mauern, kein Mauerwerk mehr. Unabhängig von Fragen der Nachhaltigkeit, des Raumklimas oder der Entsorgung von Bauresten und Bauschutt (es ist alles Sondermüll) ist damit folgendes klar:
Die historischen Industriearchitekturen, die wir heute bewahren, werden die letzten sein, die nicht nur eine spezifische Gestalt und lokale Identität haben, sondern die durch ihre bauliche Substanz überhaupt dazu in der Lage sind, Jahrhunderte zu überdauern und von ihrer Zeit zu zeugen. Was heute in Deutschlands Gewerbezonen entsteht, ist Wegwerf-Architektur, und will auch nichts anderes sein.
Die Verfasser sind seit langem in der Denkmalpflege und der Erfassung, Vernetzung und Entwicklung der Industriekultur in Thüringen und Sachsen tätig. Sie sind entschlossen, den hier aufgezeigten Missstand der Förderung einer komplett verfehlten Abrisspolitik mit Millionen von Fördermitteln in Form einer Petition an den Deutschen Bundestag publik zu machen, in die öffentliche Diskussion zu bringen und zu einem Ende zu bringen. Mitstreiter, die dieses Anliegen teilen und mitwirken wollen, sind eingeladen, mit uns Kontakt aufzunehmen unter
info@milchhof-arnstadt.de
(© alle Fotos, sofern nicht anders ausgewiesen: Jan Kobel)
Ein hervorragender Artikel, der die Problematik rund um den Abriss historischer Industriearchitektur in Deutschland treffend analysiert! Es ist wichtig, das Augenmerk auf die ökologische Nachhaltigkeit und den gewerblichen Nutzwert dieser Gebäude zu legen, und nicht nur auf den Denkmalschutz. Gerade im Kontext der Immobilienwirtschaft, wo Betriebskostenabrechnungen und Vermietungsaufgaben oft im Vordergrund stehen, sollte der Wert dieser Gebäude als potenzielle Mietobjekte nicht unterschätzt werden. Ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit kann durchaus ein Argument gegen ihren Abriss sein. Zudem ist es bemerkenswert, wie Sie den finanziellen Anreiz durch Bundes- und Landesmittel als Motor für viele Abrissprojekte identifizieren. Dies zeigt, wie dringend eine Neubewertung der Vergabepolitik erforderlich ist. Gibt es bereits eine laufende Petition zum Thema, die wir unterstützen können?
Ein Wechsel in der Politik könnte diese Kulturschätze retten und zukünftige Generationen inspirieren.
Danke für Ihr feedback!
JK
Ein toller Bericht. Er zeigt überdeutlich die Verbohrtheit und himmelschreiende Inkompetenz der öffentlichen Verwaltung und die Machtgier so mancher dubiose Politikerkasten, die in deren Amtsstuben die Steuergelder nach Lust und Laune verbrennen dürfen, ohne im Nachinein zur Verantwortung gezogen zu werden. Auch in der Landeshauptstadt Erfurt sind viele historische und architektonisch interessanter Gebäude rücksichtslos der Abrissbirne um Opfer gefallen. Ob sich dann an solchen Stellen einflussreiche „Bonzen“ dann die besten Grundstücke „unter den Nagel gerissen“ haben, um dort ihre Millionenvillen zu errichten, soll hier offen bleiben. Aber die Verschwendung von Steuergeldern hat in D ein Maß erreicht, nicht nur beim Abriss historischer Gebäude, welches jeden Bürger eigentlich erschrecken lassen sollte.