Fünf Gründe für die Platte …

Hinschauen oder wegschauen? Mit jedem abgerissenen Block – hier Leipzig 2007 – wächst die Erkenntnis, dass mehr verschwindet als ein paar Scheiben Beton. Egal ob Denkmal der Klassischen Moderne oder Plattenbau aus den 70ern, wir müssen die Stadt weiterbauen und umgestalten. Aber nicht abreissen und uns einbilden, dass besser wird, was wir danach neu errichten. Nur aus dem respektvollen Dialog mit dem Gewachsenen entsteht Geborgenheit.

„Seit Anfang der Moderne macht der Architekt erst einmal Tabula rasa, und setzt dann seine neuen Gebäude auf’s Grundstück. Mit diesem falschen Bild im Kopf leben wir noch“  Muck Petzet

… oder warum wir (auch) Plattenbauten nicht mehr abreißen sollten

Der Münchner Architekt Muck Petzet macht vor wenigen Jahren Schlagzeilen, als er auf der Architekturbiennale in Venedig 2012 im Deutschen Pavillon seine architektonische Trias „Reduce, Reuse, Recycle“ präsentierte. Da wir Architektur teilweise wie ein Müllproblem behandeln, sollten wir die Gesichtspunkte der Nachhaltigkeit auch auf das Bauen anwenden: Neubauten reduzieren, Altbauten umnutzen, Materialien weiterverwenden (Interview Muck Petzet / Detail / Oktober 2012).

Petzet geht es gerade nicht um Denkmalpflege oder historisch oder gestalterisch bedeutende Gebäude, sondern um die heute am wenigsten geachtete Architektur der 60er und 70er Jahre in Ost und West. Nicht weil er sie für besonders interessant hält, sondern schlicht und einfach weil sie da ist: Umbauter Raum, funktionierende Statik, in die Jahre gekommener Stadtraum, eigenwillige Strukturen. Was erhalten wir, wenn wir diese Architektur nicht verachten und abreißen, sondern uns fragen, was man daraus machen kann? Um diesen Themenkomplex kreisen die Fragen der zeitgenössischen internationalen architektonischen und städtebaulichen Diskussion – auch und gerade in Opposition zu den städteplanerischen Tabula-Rasa-Dogmen der Klassischen Moderne und des Bauhauses. Andrerseits: Kann die Parole Weniger ist mehr, dem dritten Bauhaus-Direktor Mies van der Rohe zugeschrieben, nicht auch stützend sein für diese postmoderne Haltung der Rückbesinnung?
Muck Petzet und seine Kollegen hatten Anfang der Nuller Jahre Aufsehen erregt mit Ihrem Umgang mit den Plattenbauten im thüringischen Leinefelde. In einem Interview von Deutschlandradio Kultur beschrieb er seine Herangehensweise so:
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„Leinefelde war ein großer Glücksfall, weil wir im Grunde genommen nur einen Abbruchauftrag hatten. Es ist ja immer so ein wahnsinniger Gedanke: Ich hab zuviel Raum, der einfach schon da ist, der kostet sozusagen nichts, was mach ich mit dem? Und wir haben dann die Idee entwickelt, ein Mieterzentrum, einen Mieterfestsaal zu machen, (…) einen Ort, wo sich Mieter treffen können. Ein ganz wichtiger Gedanke war es für uns, das Gleichgewicht von Gemeinschaft und Individuum und das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.“
(Quelle: Deutschlandradio Kultur/ Bilder: Muck Petzet Architekten)

Daniel Fuhrhop ist Architekturkritiker und Autor des frisch erschienenen Buches Verbietet das Bauen. Diese Streitschrift beleuchtet von vielen Seiten das absurde Phänomen, dass die Einwohnerzahl Deutschlands seit Jahrzehnten nicht zunimmt, wir aber jedes Jahr Wohnungen und Büros von der Größe der Stadt Bonn bauen und zugleich viele Millionen Quadratmeter Wohn- und Büroraum leer stehen. Fuhrhops Buch ist voller Beispiele, wie Städte kreativ mit städteplanerischen Problemen oder Leerständen umgegangen sind, und warum es sich immer als sinnvoller erwiesen hat, andere Wege zu gehen als neu zu bauen. So zum Beispiel in der Stadt Hasselt in Belgien, die anstelle eines geplanten dritten Autobahnrings einfach den Nulltarif für den öffentlichen Nahverkehr einführte – und damit nicht nur einen Haufen Geld sparte, sondern auch sensationell erfolgreich wahr: Zwölfmal mehr Menschen fahren heute in Hasselt Bahn und Bus als zuvor, und die Stadt beginnt, Straßen zurückzubauen und statt dessen Freizeit- und Grünflächen zu errichten!

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Vorher-Nachher in Leinefelde (1): Aus einem Block werden attraktive Stadthäuser / Quelle: Stefan Forster Architekten / Foto: Jean-Luc Valentin

Auch Fuhrhop geht es bei der Wertschätzung der vorhandenen städtischen Bausubstanz nicht um ästhetische oder kulturhistorischen Wertungen, sondern darum, dass wir begreifen, was eine lebenswerte Stadt auszeichnet. Es ist das Weiterbauen an dem, was andere vor uns gebaut haben, das Bewahren und Umnutzen, auch das Umgestalten, Erweitern oder Verringern, aber immer eine Haltung des Respekts. Gerade durch diesen respektvollen Dialog zwischen dem Gewachsenem und unseren heutigen Bedürfnissen entsteht die Vielfalt und Mischung der Formen und Nutzungen, die eine Stadt, ein Quartier oder einen Straßenzug attraktiv macht. Die Haltung der Planer, die mit den Gebäuden die vorhanden Strukturen erst abreissen und dann am Reissbrett bzw am Computer wiedererrichten wollen, ist Ausdruck von Selbstüberschätzung und Eitelkeit. Es ist die Haltung einer Moderne, die nicht erkennt, wie sehr sie bereits veraltet ist.
Es wird Zeit, dass die Architektur ihr Paradigma der Opposition „Modern gegen Bestand“ überdenkt und viele Architekten nachwachsen wie Muck Petzet oder Andreas Hild, der die europäische Stadt vergleicht mit den Texten mündlicher Überlieferungen im Sinne eines Immer-Weiter-Erzählens. Der Journalist Christopher Schwarz fasste es 2012 in der Wirtschaftswoche so zusammen:
„Wir haben einen Text und schreiben an ihm fort, durch Ergänzungen, durch Unterstreichungen, auch durch Weglassen, so wie es die Architektur 3000 Jahre lang gemacht hat.“ Hild glaubt, dass das Vokabular des Sprachsystems Stadt längst nicht erschöpft sei – wenn man es im Sinne einer Evolution der Formen weiterentwickelt, wenn man nicht gegen den Bestand, sondern mit ihm baut. Dann dürfen die Unterschiede zwischen Alt und Neu ruhig einmal verschleifen. Dann zeigt sich, dass die atmosphärische Dichte manchmal wichtiger ist als die historische Spur.“ (Quelle: Wirtschaftswoche)
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Vorher-Nachher in Leinefelde (2): Aus einem Block werden attraktive Stadtwohnungen / Quelle: Stefan Forster Architekten / Foto: Jean-Luc Valentin

Aus der Befassung mit diesen Fragen des Städtebaus und aus aktuellem Anlass habe ich fünf Gründe zusammengestellt, warum wir aufhören sollten, abzureissen und statt dessen einen Wettbewerb ausrufen um kreative Ideen, wie wir unsere alten Häuser, Blöcke, Büro- und Industriebauten wiederbeleben. Konkret am Beispiel Plattenbauten der DDR.
Erster Grund: Abriss ist Verschwendung / Insbesondere die großen Wohnblöcke unserer Städte sind eine Menge „Haus“ im Sinne von Fundamenten, Statik und Rohbau, die in der Regel intakt und letztlich auch vielfältig zu nutzen sind. Diese erst abzureißen, um an gleicher Stelle wieder Wohnblöcke zu errichten, ist planerische, logistische und materielle Verschwendung. Deswegen ist ein Neubau inkl. Abriss auch nicht billiger als eine Sanierung, wenn man alle Kosten mit einbezieht und die staatlichen Förderungen außer Acht läßt. Voraussetzung: Man läßt die Gebäude nicht jahrzehntelang verfallen.
Zweiter Grund: Sanierung ist nachhaltig / Jeder Ziegelstein, jeder vermauerter Mörtel, jede Stahlarmierung und jede Betonplatte ist gespeicherte Energie, sog. „graue Energie“, die durch einen Abriss komplett verloren geht und für die Produktion der Baustoffe eines Neubaus erneut aufgewendet werden muss. Hinzu kommt der Aufwand für Abriss, Trennung, Transport, Entsorgung oder Schreddern der Baustoffe. Als Faustregel gilt: der gesamte Energieaufwand zur Errichtung eines Gebäudes entspricht seinem Wärmeverbrauch über zwei Jahrzehnte.
Dritter Grund: Umnutzung erzeugt Vielfalt / Einer der Gründe der Attraktivität historisch gewachsener Städte ist die gestalterische Vielfalt, die sich aus dem Mix verschiedener Stile aus verschiedenen Jahrhunderten und der Vielzahl der Um- An- und Weiterbauten ergibt. Diesen jahrtausendealten Dialog mit der Baugeschichte hat die Moderne im 20. Jahrhundert abgebrochen, indem sie radikal alles verwarf, was vorher war. Seitdem wird abgeräumt und neu geplant. Mehr noch als die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben die Architekten Stadtgeschichte zerstört und die Eintönigkeit und die Trennung der Funktionen in unsere Städte gebracht. Das gilt auch und erst recht für Plattenbauten, wo für diese historische Viertel oder Straßenzüge abgeräumt wurden. Dennoch sollten wir den Fehler nicht wiederholen. Denn ist es spannend und überraschend zu sehen, was entsteht, wenn man den Dialog mit der Baugeschichte, auch der DDR, wieder aufgreift.
Vierter Grund: Erhalt der geschichtlichen Identität / Ein anderer Grund der Attraktivität der europäischen – und orientalischen – Stadt ist die Dichte der Nutzungen auf fußläufigem Raum. Der Mensch war immer das Maß der Stadt, und das bedeutete: Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Erholung, Geselligkeit und Bildung, alt und jung, arm und reich in einem Quartier. Dieses Neben-, Über und Durcheinander ist die gewachsene Stadt, die die jungen Menschen heute in den sog. „Schwarmstädten“ wieder entdecken und wieder schaffen. Auch die läßt sich planerisch nicht ersetzen. Wenn wir unsere Städte nicht behutsam weiterbauen, zerstören wir Identität und Geborgenheit. Das kann nach Jahrzehnten auch für Plattenbauten gelten, in denen Generationen herangewachsen sind. Wir sollten sie unseren Bedürfnissen modernen Wohnens und städtischen Lebens anpassen, aber nicht ersetzen.
Fünfter Grund: Vermeidung von Lärm und Dreck / Der Abriss von Wohnblöcken inkl. der Fundamente und die anschließende Errichtung von Neubauten bedeuten Dreck, Lärm und Staubbelastungen, starken LKW-Verkehr und eingeschränkte Straßenbenutzbarkeit über Monate, wenn nicht Jahre. Insbesondere bei Abrissen im innerstädtischen Bereich ist das eine starke Belastung der Anwohner. Demgegenüber ist die Sanierung des Bestandes, selbst dort, wo sie nicht günstiger ausfällt als ein Neubau, geprägt von geringerem Schwerlastverkehr, weniger Bewegung großer Massen – und schneller zu bewerkstelligen ist sie auch. Bisweilen gelingt es sogar, dass Mieter gar nicht ausziehen müssen, sondern während der Sanierungsarbeiten von ihrer alten in die neue Wohnung wechseln können.
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Alles was es über den Plattenbau, ob weltweit oder in der DDR, zu sagen gibt, auf dieser sehr gut gemachten Internetseite:
www.jeder-qm-du.de. Sehenswert sind vor allem die „Plattenköpfe“, Interviews mit Stadtplanern, Soziologen, Architekten und Ingenieuren. Allen voran mit Stefan Forster, dessen Büro Leinefelde eine neue Identität gegeben hat:
www.jeder-qm-du.de/ueber-die-platte/detail/stefan-forster

Weitere lesenswerte Artikel hierzu:
Beispiel Dresden: Siedlung Tolkewitz
Beispiel Nordhausen: Sanierung Kornmarkt-Häuser
Beispiel Halle: Sanierung Oleanderweg
Nachtrag vom 09.04.2016: Interessant wird der Plattenbau vor allem dann, wenn man die innere Struktur nicht nur horizontal, sondern auch vertikal aufbricht, also z.B. Maisonette-Wohnungen errichtet. Hier ein Vorschlag aus dem Jahre 2007 für ein Projekt in Leipzig, das allerdings nicht realisiert wurde: http://www.bruehl-leipzig.net/bruehlmodernisierung.html. Könnte mir auch vorstellen, dass man Decken teilweise entfernt und dadurch Studios oder Atelierräume mit bis zu 5 m Höhe erzielt. Statisch ist mit diesen Bauten angeblich einiges möglich.
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Kurz vor dem Abriss: drei riesige Plattenbauten in der Leipziger Innenstadt 2007. Heute steht dort ein modernes Mega-Glitzer-Einkaufszentrum, wie es auch in China oder Chicago stehen könnte.

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