Urknall der ModerneDas Bauhaus in Weimar und Dessau und der Milchhof in Arnstadt

Titelbild: Rekonstruktion des Meisterhauses von Gropius in Dessau durch das Architekturbüro Bruno Fioretti Marquez

2019 schaut Deutschland auf die Gründung einer Institution zurück, die in den Augen der Welt den Anfang all dessen symbolisiert, was wir als Modernes Bauen und Design bezeichnen: das Staatliche Bauhaus in Weimar, 1919 von Walter Gropius gegründet. Was ist so besonderes daran, dass Tausende auf den Spuren dieses internationalen Aufbruchs 2019 nach Deutschland und Thüringen kommen werden?
Entwurf einer kleinen Ausstellung anhand des Milchhofs in Arnstadt in drei Akten / ab 27. November 2015 im Stadthaus Arnstadt
von Judith Rüber und Jan Kobel

1. Bild & Heft:
Eine neue Idee von Schönheit

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Die Geschichte der Europäischen Architektur ist geprägt von Baustilen, wie der klassischen Antike (Tempel), der Romanik (Basilika), der Gotik (Kathedrale), der Renaissance (Schloß Neideck in Arnstadt) oder des Barock (Frauenkirche in Dresden), die übrigens alle auf unseren Euro-Scheinen abgebildet sind. Jeder dieser Stile überdauerte mehrere Generationen, wenn nicht Jahrhunderte.
Ab Ende des 18. Jahrhundert begannen die Architekten und Bauherren, diese Baustile nachzuempfinden und zu mischen. Es entstanden zuerst der Klassizismus, dann die Neo-Gothik und andere historisierende Neo-Stile. Andere suchten nach neuen Formen, welche sich vor allem durch besondere Verzierungen und Ornamente unterschieden, wie zum Beispiel der Jugendstil oder der Art déco. All diese Baustile  kamen jedoch bald wieder außer Mode.
Anfang des 20. Jahrhunderts blickten die Architekten somit auf eine Geschichte der Architektur zurück, in der alles schon mindestens einmal da gewesen schien. Zugleich ermöglichte die Entwicklung neuer Bautechniken wie des Stahlbaus (Eifelturm), des Stahlbetons (Industriehallen) oder der Fertigbautechnik vollkommen neue Tragwerksplanungen, Fensteröffnungen oder Fassaden.
So entstand das Bedürfnis nach einer Architektur der Neuzeit, die alles Dagewesene abstreift. Sie sollte einerseits auf neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Techniken fußen, sich andrerseits aber auch auf bewährte Handwerkstechniken zurückbesinnen. Man war der Verzierungen der Häuser überdrüssig (Ornament und Verbrechen von Adolf Loos 1908) und wollte zurück zu den Wurzeln des Handwerks. So schrieb Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses in Weimar 2019: Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück!
Diese drei Momente – Anwendung neuer industrieller Techniken, Befreiung von historischem Zierrat und Rückbesinnung auf handwerkliche Traditionen – fanden sich wieder in einer neuen Ästhetik der Einfachheit und Schlichtheit und der Reduktion auf das Wesentliche (less is more meinte Ludwig Mies van der Rohe). Das Ideal lautete: eine Architektur zu entwickeln, die keinem Stil mehr verpflichtet sei, weil sie sich jenseits aller Moden begründet.
Der Milchhof Arnstadt ist ein Gebäude, das diesen Aufbruch in die Moderne in besonders deutlicher Weises anschaulich macht:
a) Der Baukörper besteht aus drei Kuben, welche ineinander geschoben sind: einem liegenden Kubus für die Produktion, einem quer dazu stehenden Kubus für die Verwaltung und den Milchladen und einem senkrecht stehendem Kubus für das Treppenhaus. Der Kubus ist eine der einfachsten geometrischen Formen. Keine Erker oder Balkone unterbrechen diese Gestalt. Der Verzicht auf ein Satteldach unterstreicht diese Einfachheit.
b) Die Fassade verzichtet auf Verzierungen, Stucke oder Gesimse. Sie dient vor allem dem Zweck, einen großen Schriftzug zu tragen, der signalisiert, wovor man steht: Milchhof Arnstadt. So schrieb der Architekt Martin Schwarz über seinen Milchhof stolz:
„Als Schmuck dient lediglich eine Firmenschrift in großen Antiqua-Metallbuchstaben, über den Fenstern des Obergeschosses der Hauptfront an der Quenselstraße.“
c) Trotz aller Schlichtheit wirkt die Fassade des Milchhofs nicht langweilig. Das liegt zum einen an dem verwendeten Klinkerstein, der von hellem Ocker über Rot- und Violettöne bis ins Schwarze hinein lebhaft mit den Farben spielt. Zugleich ist auch die Oberfläche der Klinker von Stein zu Stein unterschiedlich, mal rau, mal eben. So ist jeder Stein der Fassade des Milchhof Arnstadt ein Unikat – ein frühes industrielles Produkt zwar des Klinkerwerkes Buchwäldchen im brandenburgischen Calau, aber dennoch wie von Hand(werkerhand) geformt. Gemauert sind die Steine in sogenannten Wilden Verband, scheinbar ohne jede Regelmäßigkeit, was ebenfalls der Belebung der Fassade dient.
d) Im Kontrast zum warmen Farbenspiel der Klinkersteine waren die sechs eisernen Fenster und die vier großen Schiebetüren des Erdgeschosses in einem kräftigen Türkisgrün gestrichen, einem Farbton, der sich in den Fließen des Treppenhauses wiederholt. Die Holzfenster des Obergeschosses waren weiß gefasst. Der Einsatz kräftiger Farben war auch für die Architekten des Bauhauses stets bewusst eingesetztes Mittel der Gestaltung. So zeigte sich die Fassade des Milchhofs bei seiner Einweihung weitaus bunter und lebhafter als heute – nach zahlreichen Eingriffen zu DDR-Zeiten und 25 Jahren des Verfalls.
e) Schließlich ist der Milchhof eine Architektur, die sich bei aller Schlichtheit auch durch die Asymmetrie des Baukörpers der Banalität und Langeweile entzieht: auch dies ein typisches Merkmal modernen Bauens. Symmetrische Gebäude vermitteln eine leicht verständliche Geordnetheit, wogegen asymmetrische Bauten leichter mißglücken, sich langsamer erschließen, aber im positiven Falle als spannender bezeichnet werden können. So wie im Falle des  Arnstädter Milchhofs, dessen Asymmetrie den meisten Betrachtern  wohlproportioniert erscheint.

2. Bild & Heft:
Eine neue Idee von industrieller Formgebung

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Das Staatliche Bauhaus in Weimar und, ab 1925, das Bauhaus in Dessau war nie nur eine Lehranstalt oder Hochschule für Gestaltung und Bau, sondern unterhielt immer auch eine eigene Werkstätten, deren Produkte verkauft wurden. Noch lange bevor der Begriff Design zum Inbegriff funktional und kreativ gestalteter Industrieprodukte wurde, erkannten die Verantwortlichen und Studenten des Bauhauses, dass die Kunst auch den Elfenbein-Turm verlassen muss und die vielen Dinge des alltäglichen Gebrauchs – Stühle, Tische, Lampen, Kinderspielzeug – so entworfen werden sollten, dass sie nützlich, schön und bezahlbar sind.
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Diese Idee lebt heute in seiner deutlichsten und erfolgreichsten Form in dem schwedischen Möbelhaus IKEA weiter. Hier entwerfen Künstler vom Teppich bis zum Leuchter alles, was einen Haushalt ausstattet – unter der Maßgabe, dass es industriell produzierbar, erschwinglich und formschön sei. Das Bauhaus hat das Kunsthandwerk in Design überführt. Berühmte Beispiele dafür sind die sogenannte Wagenfeld-Lampe oder die Metallrohr-Stühle des Bauhaus-Schülers Marcel Breuer.
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(Lampe: Wagenfeld / Treppenhaus: Walter Gropius / Stuhl: Marcel Breuer)

Für die Architektur bedeutete diese Entwicklung, dass das Kunsthandwerk in der Ausstattung von Gebäuden immer mehr an Bedeutung verlor. Am Milchhof in Arnstadt ist das am Beispiel des Treppengeländers zu studieren. Noch wenige Jahre zuvor hatte der Architekt Martin Schwarz in seinen Gebäuden die Gestaltung und Ausarbeitung der Treppenhaus-Geländer dem schmiedenden Kunsthandwerk überlassen, wie beispielsweise im Fürst-Günther-Gymnasium zu studieren.
Ganz anders im Milchhof: hier ist das Geländer aus günstigen Standardprofilen aus Stahl zusammengenietet. Die offen sichtbaren Nieten zeigen einen weiteren Gestaltungsgrundsatz der Bauhäusler: die konstruktiven Elemente jeder industriellen Formgebung sollten sichtbar sein und nicht mehr verdeckt. Einfacher, als es Martin Schwarz es im Milchhof Arnstadt getan hat, kann man ein Treppenhaus kaum gestalten.
Uns erscheinen diese Gestaltungsprinzipien heute ebenso selbstverständlich wie die industrielle Herstellung sämtlicher Gegenstände, die uns umgeben – so sehr, dass für uns wiederum das Kunsthandwerk, das von Hand gestaltete Unikat, einen besonderen Wert erhält. In den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts dagegen waren die Ideen des Bauhauses so avantgardistisch und revolutionär, dass weite Teile des Bürgertum, des Handwerks und der Politik ihnen ablehnend gegenüber standen. Man identifizierte das Bauhaus mit linker und sozialistischer Ideologie und entzog ihm so immer mehr die finanzielle und politische Unterstützung. Die Nazis machten dem Bauhaus dann 1933 endgültig den Garaus. Viele Bauhäusler flohen vor der politischen Verfolgung ins Ausland . Dort, vor allem in den USA und in Israel, lebten die Ideen, die den Urknall der Moderne markieren, weiter, während Deutschland für zwölf Jahre in Dunkelheit versank.

3. Bild & Heft:
Eine neue Idee von sozialer Verantwortung

BQ1A9996Das Jahr 1919 steht nicht nur für die Gründung der Weimar Republik und die Gründung des Bauhauses in Weimar. Der Erste Weltkrieg war verloren, und mit ihm das alte Wilhelminische Kaiserreich. Für viele junge Menschen, kreative Köpfe und ehrgeizige Unternehmer war eine neue Zeit angebrochen, in der alte Zöpfe endlich abgeschnitten und eine aufgeklärte, soziale und moderne Gesellschaft aufgebaut werden sollte. Diese Zeit nennen wir heute die „Zwanziger Jahre“ – eine Zeit, in der Deutschland international führend war auf fast allen Gebieten der Wissenschaft, Kunst und Industrie.
Es war eine Zeit radikaler Umwälzungen, wie wir sie auch an den Bauten des jungen Arnstädter Architekten Martin Schwarz (1889-1945) studieren können. Schwarz prägte das Stadtbild der Stadt Arnstadt wie kein anderer Baumeister vor  und nach ihm – mit zahlreichen repräsentativen, wenngleich konservativen Bauten wie  der Ley-Villa, dem Druckerei-Gebäude in der Erfurter Strasse oder dem Gymnasium. Doch plötzlich, gegen Ende der Zwanziger Jahre, plante und realisierte er im genossenschaftlichen Auftrag mit dem Milchhof Arnstadt ein für die damalige Zeit ultramodernes Gebäude.
Nichts in seiner uns bekannten Vita oder in seinen bislang realisierten Bauten weist Martin Schwarz als Avantgardisten oder Architekten der Moderne aus. Doch am 3.12.1928 erläutert er im Arnstädter Anzeiger anlässlich der Eröffnung des Milchhofs seine Überlegungen und Formgebungen, als hätte er nie anders gedacht und gebaut und als sei er Absolvent des Bauhauses unter Walter Gropius oder Hannes Meyer gewesen. Dieser Artikel ist hier nachzulesen.
Einer der Schlüsselsätze seiner umfangreichen Erläuterung lautet:
„So wird es unbedingt mit Freuden begrüßt werden, daß nun auch Arnstadt durch den Zusammenschluss der Landwirte unseres Kreises eine Genossenschafts-molkerei erhalten hat, mit einem neuzeitlichen Betrieb, der fortan berufen ist, die Bevölkerung mit hochwertiger, einwandfrei behandelter Milch und Milchprodukten zu versorgen.“
Ein gesellschaftlicher und sozialer Zweck, die Versorgung der Bevölkerung mit hygienisch einwandfreier Milch, steht im Mittelpunkt der Planungen für den Milchhof. Nicht der repräsentative Auftritt eines Unternehmens und nicht die Vermehrung des Reichtums einer Familie. Diese soziale Ausrichtung des planerischen Denkens des Architekten passte nicht nur zu seinem Auftraggeber, einer Genossenschaft der Landwirte des Kreises. Sie zeigt sich auch an vielen Details seines Gebäudes.
Der Milchhof Arnstadt beweist seine Volksnähe zuerst durch den in das Gebäude an prominenter Position eingerichteten Milch- und Käseladen. Die Bürger der Stadt sollten die Möglichkeit haben, die hochwertigen Milchprodukte direkt an der Quelle zu günstigem Preis zu erstehen. Die Verbundenheit von Milcherzeugern, Molkerei und Verbrauchern unterstreicht das Gebäude durch ein großes liegendes Fenster, das den Kunden des Ladens Einblick gab in den großen Saal, in dem die Milch angeliefert, gewogen, geprüft und zentrifugiert wurde. Der Milchhof des Martin Schwarz ist ein öffentliches Gebäude mit hoher Transparenz.
Große liegende Fenster ermöglichten darüber hinaus von fast jedem der Produktionsräume den Durchblick in den benachbarten, was nicht nur der Kontrolle des Produktionsprozesses diente, sondern auch der Belichtung mit Tageslicht. Tageslicht und damit eine angenehme Belichtung der Arbeitsplätze erhielten der große Saal und die Butterei auch über große Oberlichter. Viele dieser Fenster sind leider zu DDR-Zeiten zugemauert oder verkleinert worden.
Während das Erdgeschoss des Milchhofs ganz der idustriellen Produktion von Milchprodukten gewidmet ist, zeigt sich das Obergeschoss wohnlich: Hier befinden sich neben Büro und Besprechungsräumen und der Wohnung des Betriebsleiters auch Ruhe- und Schlafräume für das Personal. Wer Frühschicht hatte, konnte die Nacht in der Molkerei verbringen, um nicht mitten in der Nacht – mit welchem Gefährt auch immer – anreisen zu müssen. Die Räume, das Treppenhaus und der lange Flur sind durch große Fensterbänder gut belichtet.
Zu den bereits oben gezeigten baulichen Besonderheiten des Baukörpers kommt hier ein weiteres hinzu: die Fassade ist betont flach und langgestreckt. Das Mauerwerk, die liegenden Fenster, das Betonband unter den Fenstern im ersten Stock und die umlaufende Rampe mit dem (nicht mehr vorhandenem) Glasdach und den Schiebetüren unterstreichen diese Horizontalität. Es gibt keine Regenrinne und kein senkrechtes Fallrohr.
Diese Horizontale ist ein bewusster Kontrapunkt zu einer Architektur der Höhe und Vertikalität: Vertikale Architektur (Kathedralen, Wolkenkratzer) will beeindrucken durch ihre Größe und macht den Menschen klein. Vertikale Architektur ist Architektur der Macht. Liegende Architektur dagegen ist eine Architektur der Bescheidenheit und des Dienens: eine Architektur für die Menschen.
In dieser Horizontalität betont die Fassadengestaltung ein weiteres Mal die dienende Funktionalität des Gebäudes. Martin Schwarz war ein Architekt, der es verstand, einen Baukörper zu entwerfen, dem seine soziale und dienende Funktion in jedem Detail anzusehen ist. Er ist damit auch Beleg dafür, dass man kein Bauhäusler gewesen sein musste, um 1928 zur architektonischen Avantgarde zu zählen.
Denn wie zahlreiche Bauten aus dieser Zeit beweisen, fand der Aufbruch in die Moderne auch andernorts statt (ganz besonders auch in Erfurt, siehe:
Nach dem Bauhaus: Geschichte und Fotografien des Neuen Bauen in Erfurt,
Iris EngelmannMark EscherichAlexander Lembke, Erfurt 2009). Das Bauhaus in Weimar, Dessau und Berlin ist für uns Nachgeborenen aber die Institution, die wie keine andere die Ideen verdichtete und umsetzte, die wir heute Moderne nennen. Bis in die Universitäten der chinesischen Metropolen hinein genießt das Bauhaus als Ikone der Architektur und des Designs heute international höchste Verehrung – bis hin zu Bauhaus-Requisiten, bedruckt mit den Unterschriften von Gropius, Feininger, Schlemmer und co:
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(gesehen und gekauft in Shenzhen / China)